Der nachfolgende Text war wohl mein allererster Versuch in Sachen »journalistisches Schreiben«. Er erschien Ende 1968 in der Nummer 44 der gemeinsamen Schülerzeitung des Fichte- und des Theodor-Heuss-Gymnasiums in Hagen, DIE LUPE. Wohlgemerkt: 1968 gab es auch am Theodor-Heuss-Gymnasium noch Lehrer, die Ohrfeigen verteilten oder mit Kreidestücken oder sogar mit ihrem Schlüsselbund (!) nach Schülern warfen. Aus heutiger Sicht mag das, was in diesem Artikel beschrieben wird, nicht mehr so ungewöhnlich erscheinen. Damals kam es einer kleinen Sensation gleich.

»Ich suche einen Menschen!«

Die Sache begann eigentlich ganz harmlos mit einer montäglichen Geschichts­stunde, auf die wir uns so ziemlich alle freuten, da Herr Max es liebt, Assoziationen zwischen geschichtlichen Ereignissen und Zuständen der Neuzeit herzustellen. Thema der Stunde war griechische Philosophie. Es ging also um Leute wie jenen Diogenes, der schließlich auch Anlaß zu den Geschehnissen des folgenden Tages werden sollte.

Sie wissen schon: Diogenes war jener gute Mann, der in einer Tonne hauste und glaubte, daß Armut und einfaches Leben glücklich machen. Auch sonst hatte er einige seltsame Einfälle, wie Herr Max uns erzählte. So ging er beispielsweise eines Tages durch die Straßen Athens, wobei er trotz scheinender Sonne eine Laterne in der Hand trug. Auf die Frage, wozu das Lichtlein denn gut sei, und was er damit wolle, antwortete er mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen, er suche nur einen Menschen.

Herr Max stellte, nachdem sich das Gelächter der Klasse gelegt hatte, treffend fest, daß es gerade heute besonders schwierig sein würde, einen Menschen zu finden, da dies doch sogar im alten Griechenland nicht gelungen sei. »Mag sein«, sagte jemand provozierend, »aber wahrscheinlich würde heute auch keiner mehr so etwas Verrücktes wagen, nicht einmal Sie, Herr Max!« Damit war der Jemand jedoch im Irrtum. »Natürlich würde ich das machen!« entgegnete Herr Max. »Warum auch nicht? Ich wüßte allerdings nicht, woher ich eine Laterne nehmen sollte.« »Keine Schwierigkeit«, lautete unser Kommentar. »Die besorgen wir; wann geht’s los?« »Gleich morgen«, antwortete Herr Max etwas überrumpelt, »in der 1. großen Pause. Dann habe ich Aufsicht im Innenhof.«

Tatsächlich waren am nächsten Tag die benötigten Utensilien beschafft – nicht nur eine knallgelbe Laterne mit Kerze darin, sondern auch eine schwarze Fahne an rotem Stock, auf die mit weißem Isolierband »ICH SUCHE EINEN MENSCHEN« und »Diogenes« geklebt worden war.

Wir präsentierten die beiden Objekte in der 2. Stunde, einer Deutsch­stunde, die ganz im Gefühl der Vorfreude auf ein illustres Spektakel stand. Beim Gongzeichen stieg dann die Sache. Herr Max entzündete die Kerze, schwenkte die Laterne wild hin und her und verließ festen Schrittes den Raum, gefolgt von einem Fahnenträger und dem still vor sich hingrinsenden Rest der Klasse.

Foto © Privat

Die ersten schockierten Gesichter von Lehrern und Schülern gab es bereits im Flur und im Treppenhaus. Unterdessen wurde eine Fotokamera zum letzten Mal überprüft – denn es wäre ja wirklich zu schade gewesen, das ungewöhnliche Ereignis vorübergehen zu lassen, ohne es im Bild festzuhalten. Schließlich war der Innenhof erreicht, und Herr Max begann mit hin- und herschwenkender Laterne seine Runde. Erstes Gelächter wurde laut, und verschiedene Schüler schauten sich bezeichnend an. »Wollen wir für ihn sammeln?« »Jetzt ist er endgültig übergeschnappt!« »Besuchen wir ihn nächste Woche im Irrenhaus?« Verschiedene Schüler ließen sich in kleine Diskussionen mit ihm ein, wobei sie erfuhren, daß er jetzt nur einen Menschen, demnächst aber auch einen Schüler suche, der »ohne die Pille auskomme«. Die Information schockierte die Anwesenden sehr.

Durch das Treppenhaus kommende Lehrer konnten sich vor Lachen kaum halten. »Happening« (?), auf dem Film sogar farbig … Der Gong, der einige Minuten zuvor die Aktion eingeleitet hatte, war so unfreundlich, sie schon wieder viel zu früh zu beenden. Die Menge zerstreute sich kopfschüttelnd, und Herr Max wandte sich dem Lehrerzimmer zu. Über die dortigen Ereignisse ist nur bekannt, daß die Lehrer nicht mit Nachdenklichkeit, sondern mit Gelächter reagierten.

Ort des Geschehens: Das Theodor-Heuss-Gymnasium, Hagen
Zeit des Geschehens: Der 22. Oktober 1968
Grund des Geschehens: Die durch den alten Diogenes inspirierte, bitter nötige Suche nach einem Menschen.

Resultat: Nicht sehr ermutigend. Die Sensation war bald vergessen, der Sturm im Wasserglas rasch beendet; sogar das Gelächter hielt sich, erstickt durch den schulischen Alltag, nicht lange.

Ein Mensch wurde zwar nicht gefunden, aber vielleicht bewies der Suchende, daß er ein Mensch ist?!

– karl-ulrich burgdorf –