Rezensiert: "Der Ordner", Niehaus, Gerigk

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© Theater FreiFrau & Videovita Filmportraits

Der Ordner

DVD

Drehbuch & Regie:
Carola von Seckendorff

Kamera & Schnitt:
Jens M. Krause

Mit:
Hannes Demming, Cornelia Kupferschmid und Stephanie Borgert

Eine Produktion von Carola von Seckendorff und Jens Krause (2020),
unterstützt von Münster Marketing

Spieldauer: ca. 42 Minuten
plus ca. 30 Minuten Bonusmaterial

"Eine Enkelin begegnet ihrem Großvater. Der ist eigentlich schon lange tot und sie selbst längst erwachsen und eine erfolgreiche Geschäftsfrau – aber ein gelber Ordner, den ihr die Großmutter auf dem Sterbebett übergab mit den Worten: 'Mach nach meinem Tod damit, was Du willst!' erweckt ihn wieder zum Leben. Und mit ihm melden sich die Gespenster aus der Vergan­genheit zu Wort.

Was hat Opa im Krieg eigentlich gemacht? Wie denkt er heute darüber? Sie fordert ihn heraus, Stellung zu beziehen zu dem, worüber in der Familie nie gesprochen wurde. Sich endlich zu äußern, zu dem, was in dem gelben Ordner dokumentiert ist: die Anklage wegen Mordes an mindestens 100 Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland.

Der Film, beruhend auf der wahren Familiengeschichte von Stephanie Borgert und ihrem Großvater Walter Pohl, beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit uns die Taten unserer Großväter geprägt haben, uns schuldig machen und uns noch heute beeinflussen.

Diese Filmfassung basiert auf dem gleichnamigen Bühnenstück, das von Carola von Seckendorff in Zusammenarbeit mit Stephanie Bor­gert und Cornelia Kupferschmid konzipiert und im Rahmen des Theaterfestivals '24 Stunden Münster' 2018 uraufgeführt wurde.“

— Covertext der DVD Der Ordner

Wie würden Sie reagieren, wenn Sie ganz plötzlich erführen, daß Ihr geliebter Großvater während der Nazizeit den Befehl zur Erschießung von 100 unschuldigen Menschen gegeben hat? Würden Sie ihn in Ihrer Phantasie womöglich aus dem Totenreich zurückrufen, um im Gespräch mit ihm herauszufinden, warum er eine derart verabscheuungswürdige Tat begangen hat? Und wie würden Sie nach all dem, was Sie aus dem ominösen gelben Ordner über ihn erfahren haben, jetzt, in der Gegenwart, zu ihm stehen? Könnten es womöglich sogar sein, daß Sie ihn trotz allem immer noch lieben würden, da er doch schließlich Ihr Großvater ist?

Mit einer Auferstehung aus dem Totenreich – oder sagen wir lieber: aus dem Reich der Erinnerung – beginnt auch der Kurzspielfilm Der Ordner. Am Anfang sehen wir die reale Stephanie Borgert, die in jenem gelben Ordner mit den Gerichts­unter­lagen blättert, den ihre Großmutter ihr übergeben hat. Dann aber ist plötzlich ihr Großvater da, und von diesem Moment an wird die echte Stephanie durch die Schauspielerin Cornelia Kupferschmid ersetzt, die stellvertretend für sie in einen für beide Seiten schmerzhaften Dialog mit diesem Großvater um Schuld, fehlende Sühne und die Auswirkung der NS-Verbrechen auf uns Nachgeborene eintritt. Walter Pohl wiederum wird gespielt von dem großartigen Hannes Demming, der den Lesern meines Erzählungsbandes Der Schäms-Scheuß-Virus und andere unwahr­scheinliche Geschichten bereits durch seine kongeniale Übersetzung meiner Kurzgeschichte "Dat Alienotranslatonium" ins Plattdeutsche und den Besuchern meiner Internetseite durch seine Lesung eben dieser Geschichte auf YouTube bekannt sein dürfte.

Hannes Demming, inzwischen hoch in den Achtzigern, ist als Schauspieler, Regisseur, Autor, Übersetzer und Kolumnist ein wahres Multitalent. In Der Ordner hat er Gelegenheit, seine schauspielerischen Fähigkeiten wieder einmal voll aus­zuspielen, denn Jens M. Krauses exzellente Kameraführung arbeitet in erster Linie mit Großaufnahmen, die jede noch so kleine Gefühlsregung der beiden Protago­nisten exakt erkennbar werden lassen. Cornelia Kupferschmid steht Hannes Demming in der Intensität und Präzision ihres Spiels in nichts nach, und so entwickelt sich in diesen gerade einmal 42 Minuten ein ungemein spannendes Kammer­spiel, in dessen Verlauf beide alle Register ihres beachtlichen Könnens ziehen. Cornelia Kupferschmid nimmt man dabei jederzeit das verzweifelte Bedürf­nis ab, Klarheit über die Motive Walter Pohls zu gewinnen, auch wenn ihre Versuche letztlich scheitern müssen, weil ihr Großvater sich wie schon bei seiner Gerichts­verhandlung in den 1950er Jahren, bei der er am Ende tatsächlich freigesprochen wurde, immer dann, wenn Stephanies Fragen direkt auf seine Schuld abzielen, auf die Rechtfertigungslüge vom "Befehlsnotstand" zurückzieht, obwohl es historisch erwiesen ist, daß Kommandanten, die sich weigerten, Erschießungsbefehle auszu­führen, nicht damit rechnen mußten, für ihre Verweigerung womöglich selbst erschossen zu werden.

Walter Pohl wiederum versucht nicht weniger verzweifelt, sich die Liebe seiner Enkelin zu erhalten, indem er sie an die schönen Zeiten ihrer Kindheit erinnert, in denen er ihr Lieder auf der Mund­harmonika vorspielte oder ihr vorführte, wie man mit den Ohren wackelt. Aber auch seine Versuche müssen scheitern, weil die erwachsene Stephanie angesichts des Wissens um seine Verbrechen nicht wieder in einen Zustand bedingungsloser kindlicher Liebe zurückkehren kann. Und so endet die fiktive Aussprache zwangsläufig in beiderseitiger Resignation.

Geradezu gespenstisch dann die letzten Szenen des Films, in denen Walter Pohl sich immer mehr in sich selbst zurückzieht und die Musik auf seiner Mund­harmo­nika nur noch als Mittel der Kommunikationsverweigerung benutzt. Wer bis dahin noch gewisse Sympathien für ihn empfunden haben mag – hier erlöschen sie plötz­lich vollends, da Hannes Demmings wunderbares Spiel seiner Figur fast unmerklich plötzlich etwas seltsam Dämonisches verleiht. Das Böse in der Maske eines Bieder­manns ...

Nur abgefilmtes Theater, meinen Sie? Nein, alles andere als das! Regisseurin Carola von Seckendorff und Kameramann Jens M. Krause machen aus dem, was einmal ein faszinierendes Theaterstück war, dank geschickt eingesetzter filmischer Mittel eine grandiose Studie nuanciertester Gefühlsregungen angesichts einer Wahrheit, die so monströs ist, daß sich beide Protagonisten ihr am liebsten nicht stellen würden, der sie sich aber stellen müssen, da die Nazis und ihre Verbrechen eben nicht bloß "ein Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte" sind, wie es ein gewisser Alexander Gauland in einem Akt bewußter Geschichtsklitterung behaup­tet hat.

Ebenso sehenswert wie der Film ist übrigens das Bonusmaterial der DVD, beste­hend aus zwei Interviews mit Carola von Seckendorff und Hannes Demming, die darin viel Wissenswertes über das Theaterstück und den Film, aber auch über sich selber zu berichten wissen. Also: Unbedingt anschauen – es lohnt sich!

Bestellmöglichkeit

Zu beziehen ist die DVD zum Preis von 20 € (15 € zuzüglich 5 € Versandkosten als Einschreiben) über Jens Krause:

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"And now for something completely different", um einmal die Monty Pythons zu zitieren...

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© p.machinery/Rainer Schorm

Monika Niehaus

Geschichten aus Donnas Kaschemme

Fantastische Storys vom Rande der Milchstraße

Mit einem Nachwort von Jörg Weigand und Bildern von Rainer Schorm

Verlag p.machinery 2021
Reihe AndroSF 137

Paperback – 214 Seiten
€ 14,90 (D)
ISBN 978-3-95765-229-4

E-Book: Kindle € 7,49 (DE)
ISBN 978-3-95765-865-4

Sie fragen, wie man zu Donnas legendärer Kaschemme kommt? Ach, das kann ich Ihnen gerne erklären: Sie befindet sich auf einem kleinen und ziemlich unbedeu­tenden Planeten am Rande der Galaxis, der von seinen Einwohnern merkwürdiger­weise "Terra" genannt wird. Aber kommen Sie doch einfach mit! Ich bin selbst gerade auf dem Weg dorthin, um mir mal wieder ein paar Bierchen zu zischen. Sie müssen nämlich wissen, daß in Donnas Kaschemme das beste Bier im ganzen Quadranten ausgeschenkt wird. Aber das ist beileibe nicht der einzige Grund, warum sich ein Besuch in Donnas Kaschemme lohnt, o nein! Wenn man erst einmal mit ihnen warm geworden ist, möchte man nämlich auch die Stammgäste nicht mehr missen, die sich regelmäßig bei Donna herumtreiben. Und was für Geschich­ten da allabendlich erzählt werden! Nun ja, ich gebe zu: So richtig wahr sind die meisten davon nicht – eigentlich könnte man sogar sagen, daß es sich dabei in der Regel um deftige Lügengeschichten handelt, von denen sich der weiland berühmte terranische Lügenbaron Münchhausen manch eine dicke Scheibe hätte abschneiden können. Ach, von dem haben selbst Sie als Glibber-Alien schon gehört? Na, dann werden Sie ja wissen, was Sie in Donnas Kaschemme erwartet!

Die Stammgäste, von denen ich sprach? Da ist zum einen Willi, das Wurmloch­wiesel, ein Weltraumscout und Hansdampf in allen Gassen, wie er im Buche steht. Der streitet sich meist den ganzen Abend mit Quoxx, dem stämmige Kuiper-Belter herum, aber weil der Eine ohne den Anderen nicht einmal halb so viel Spaß hätte, sind sie inzwischen eigentlich die dicksten Freunde, auch wenn sie das wohl niemals zugeben würden. Und dann ist da noch die K’chin-Kriegerin K’Xara. Mann, ist das eine Wuchtbrumme! Schwarz wie die Nacht und mit einem gewaltigen Widder­gehörn auf dem Schädel, mit dem sie gerne auch schon mal buchstäblich durch die Wand geht. Nein, machen Sie sich keine falschen Hoffnungen, mein glibbriger Freund, die ist schon längst in festen Händen. Little Wong, so heißt ihr Liebster, ist ein zierlicher Chinese aus dem Shanghai-Imperium – also ein klarer Fall von "Gegen­sätze ziehen sich an". Ein kluger Kopf übrigens, dieser Little Wong ... ach, was sag ich! Ein Genie ist der Mann, was sich jedesmal dann erweist, wenn es darum geht, komplizierte Kodes zu knacken oder andere merkwürdige mathematisch-naturwissenschaftliche Probleme zu lösen, die selbst einen Martin Gardner zur Verzweiflung getrieben hätten.

Mit diesen Vieren, von denen ich da gerade sprach, werden Sie sich bestimmt rasch anfreunden, es sei denn natürlich, Sie seien ein verkappter Emissär von Donnas Erzfeindin Fat Suzy, die immer wieder mit allen möglichen üblen Tricks versucht, Donnas Kaschemme in ihren Besitz zu bringen. Aber wenn Sie wirklich nur ein harmloser Gast sind, dann wird man Sie bestimmt mit so offenen Armen empfan­gen, daß Sie gar nicht mehr das Bedürfnis haben, jemals wieder von dort weg zu wollen.

Wußten Sie übrigens, daß es inzwischen sogar ein Buch über Donna und ihre wundersame Kneipe gibt? Ja, wirklich! Es heißt Geschichten aus Donnas Kaschemme, und geschrieben hat es eine gewisse Monika Niehaus, von der, so wird gemunkelt, demnächst auch noch eine weitere Storysammlung mit Nicht-Donna-Geschichten herauskommen soll, die vorher in etwas erschienen sind, das man "Phantastische Miniaturen" nennt. Sollten Sie beides unbedingt lesen, denn die Dame kann wirklich herrliche Geschichten erzählen!

Ah, da sind wir ja schon! Die Tür steht weit offen, wir müssen nur noch hinein­gehen. Die Stammgäste habe ich Ihnen ja schon beschrieben, und Donna werden Sie sofort an ihrer roten Irokesenfrisur erkennen. Also nichts wie los – und wissen Sie was? Das erste Bier geht auf meinen Deckel!

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©p.machinery/Rainer Schorm

Frank G. Gerigk (Hrsg.)

Die Welten des Jörg Weigand

Verlag p.machinery 2020
Reihe Die Welten der SF 2

Paperback – 368 Seiten € 16,90 (DE)
ISBN 978-3-95765-222-5

E-Book: Kindle
€ 8,49 (DE)
ISBN 978-3-95765-874-6

Beinahe noch rechtzeitig zu seinem 80. Geburtstag im Dezember 2020 hat Jörg Weigand nach dem von von seiner Ehefrau Karla Weigand und Rainer Schorm herausgegebenen Band In 80 Jahren um die Welt. Jörg Weigand zum Jubeltage noch ein zweites, nicht minder schönes Geburtstagsgeschenk erhalten, nämlich die von Frank G. Gerigk herausgegebene Sammlung Die Welten des Jörg Weigand, die die besten Kurzgeschichten dieses wahrhaft "Großen Alten" der deutschen SF und Phantastik endlich wieder verfügbar macht. Aber auch dieser Band ist nicht nur ein Geschenk für Jörg Weigand selbst, sondern auch eines für uns, seine langjährigen Leser sowie für alle, die ihn jetzt vielleicht zum ersten Mal entdecken.

Frank J. Gerigk konnte dabei aus dem vollen schöpfen, denn Jörg Weigand hat Stand 2020 nicht weniger als 180 (!) Kurzgeschichten veröffentlicht. Aus diesem reichen Fundus hat der Herausgeber 40 Stories ausgewählt und sie klugerweise in chronologischer Reihenfolge angeordnet, wodurch es dem Leser möglich wird, die Entwicklungslinien in Jörg Weigands Schaffen von 1973 bis 2014 auszumachen. Ergänzt wird dies durch einen Anhang mit zwei Jugendgeschichten Weigands aus den 1960er Jahren.

Zwei Entwicklungslinien fallen dabei sofort ins Auge. Zum einen ist Jörg Weigand nicht nur als Anthologie-Herausgeber, sondern auch als Autor von Anfang an zweigleisig gefahren, hat sich also gleichermaßen in den Bereichen SF und Phan­tastik getummelt – rein phantastischer Natur sind etwa gleich die ersten beiden Geschichten der Sammmlung, "Das Geheimnis der Hakka" (1973) und "Mandra­gora" (1975). Ab da überwiegen dann für lange Zeit die SF-Erzählungen, während er in späteren Jahren wieder verstärkt zur Phan­tastik zurückkehrt. Zum anderen fällt auf, daß viele seiner SF-Geschichten einen gesellschafts- und medienkritischen Hintergrund haben – eigentlich kein Wunder, denn schließlich war er als Redakteur im Bonner Studio des ZDF stets ganz dicht am Puls der Zeit!

Gleich zwei seiner politischen SF-Geschichten, die beide 1981 entstanden, nämlich "Immer am Ball" und "Touristenattraktion", spielen in einem Indien der nahen Zukunft, wo sich zynische Journalisten und sensationsgeile Touristen ein unheiliges Stelldichein geben, das an Arroganz gegenüber den leidenden Bevölkerungsmassen der sogenannten "Dritten Welt" kaum zu überbieten ist. 1981 scheint in literari­scher Hinsicht ohnehin ein ertragreiches Jahr für Jörg Weigand gewesen zu sein, denn in diesem Jahr schrieb er auch noch "Bellinda Superstar" und "Pepes Welt", zwei weitere herausragende Stories dieser Kollektion. "Bellinda Superstar" erzählt die Geschichte einer jungen Schauspielerin, die als Vorbild für einen neuen, synthe­tisch erzeugten weiblichen Star dienen soll. Dazu wird eine riesige Menge an Video­schnipseln von ihr angefertigt, die die Macher im Hintergrund später immer wieder neu zur fiktiven Gestalt der "Bellinda Superstar" kombinieren und rekombinieren wollen. In technischer Hinsicht ist die für ihre Zeit äußerst revolutionäre Geschichte inzwischen natürlich überholt – wer je ein "Making-of" des Herrn der Ringe gesehen hat, in dem gezeigt wird, wie sich der Schauspieler Andy Serkis im Computer in das Monster Gollum verwandelt, weiß das —, aber ihrer psychologischen Wirkung schadet das keineswegs. Für mich auf jeden Fall eine der besten Geschichten des Bandes!

"Pepes Welt" hingegen beweist, daß auch diktatorische Staaten (in diesem Fall ein lateinamerikanischer) die Wahrheit nicht einmal durch brutalste Gewalt auf Dauer unterdrücken können, denn es wird sich immer wieder jemand finden, der sie weiter­trägt. Vladimir Putin, der kommunistischen Regierung Chinas und dem Mili­tärregime in Myanmar sei’s ins Stammbuch geschrieben ...

Aber natürlich müssen es nicht immer politische Geschichten sein. Das wunderbar ironische "Objekt der Verehrung" (1981) spielt nach einer globalen Katastrophe, durch die die Menschheit auf eine primitive Stufe zurückgefallen ist. Geschildert werden die Zweifel eines jungen Jägers am "Großen R", dem Gott seines Stammes. Um diese Zweifel zu beseitigen, zeigt ihm der Oberpriester schließlich die heiligen Dokumente, die die reale Existenz des "Großen R" verbürgen. Klingt banal, ist es aber nicht – denn der ironische Dreh, mit dem Jörg Weigand die Geschichte schließt, ist ein echter Knaller!

In "Shira" (1983) wiederum erzählt er auf anrührende Weise eine herzzerreißende Liebesgeschichte zwischen einem Menschen und einer außerirdischen Pflanze. Und in "Ortsbesichtigung 1984" (1984), einer Zeitreise-Story, spielt George Orwell himself eine nicht unbedeutende Rolle.

Auch im Bereich der Phantastik hat Jörg Weigand eine Reihe bemerkenswerter Geschichten verfaßt, die nicht zuletzt durch ihre für deutsche Autoren eher ungewöhn­liche Themenstellung auffallen. In "Das Rollbild des Li Yü" etwa schildert er die Begegnung eines 13-jährigen Jungen mit einem alten Chinesen, in dessen Wohnung das Rollbild eines Bogenschützen hängt. Eines Tages wird dieses Bild gestohlen, aber Li Yü ist keineswegs beunruhigt – schließlich weiß er ja, daß sich dieses von ihm selbst gemalte Bild sehr gut auch allein gegen den Dieb zu wehren weiß. "Mademoiselle Toutou" (1986) ist eine Liebesgeschichte zwischen einem jungen Deutschen und einer Französin, die er immer nur nachts treffen darf, denn bei Tag nimmt sie eine sehr andere Gestalt an – welche, das sei an dieser Stelle natürlich nicht verraten! "Der Anhalter" (1988) erzählt die tragische Geschichte eines Mannes, der per Anhalter auf dem Weg nach Hause zu seiner Familie ist, dort aber niemals ankommen kann. "Die Rache der Fuchsfrau" (2006) hingegen beschreibt, wie ein weiblicher Fuchsdämon einer Europäerin, die auf Besuch in China ist, aus Eifersucht das Leben zur Hölle gemacht. Hier kann der promovierte Sinologe Weigand natürlich wunderbar aus seiner tiefen Kenntnis der chinesischen Geister- und Gespensterwelt schöpfen.

"Das sensible Klavier" (2012) handelt von einem älteren Herrn, der verzweifelt nach seinem in frühester Kindheit von ihm getrennten Zwillingsbruder sucht. Stattdessen findet er in einem Hotel ein Klavier, das unerklärlicherweise von selbst zu spielen anfängt, und zwar eine Melodie, die der ältere Herr zu seinem Entzücken, aber auch zu seinem Entsetzen sofort wiedererkennt – er selbst hat diese Melodie vor einigen Monaten im Andenken an seinen Bruder geschrieben, sie aber niemals veröffentlicht! Von der Empfangsdame des Hotels erfährt er, daß kürzlich ein anderer älterer Herr diese Melodie auf eben diesem Klavier gespielt hat ...

In "Selbdritt" (2013) schließlich, der thematisch vielleicht ungewöhnlichsten Geschichte des Bandes, wird ein Künstler beauftragt, aus Kirschholz eine Selbdritt-Statue zu schnitzen. Selbdritt-Statuen (katholische Leser werden dies wissen) zeigen immer die Hl. Anna, ihre Tochter Maria und das Jesuskind, wobei traditions­gemäß Marias Mutter Anna stets den Mittelpunkt der Komposition bildet. Der Auf­traggeber hingegen verlangt eine Selbdritt-Komposition, in deren Mittelpunkt Maria stehen soll. Der Künstler stellt die Statue zwar fertig, aber dann geschieht etwas, womit er niemals gerechnet hätte ...

Und dann ist da noch eine Geschichte, die völlig aus dem Rahmen fällt: "Hurra, hurra – wir leben noch!" aus dem Jahr 2000. Das ist eine Horror-Story vom Feinsten, die man allerdings nur lesen sollte, wenn man einen starken Magen hat, denn der Ekelfaktor ist extrem hoch.

Abgerundet wird der empfehlenswerte Band durch ein biografisches Nachwort des Herausgebers Frank G. Gerigk sowie durch eine Komplettbibliografie, aufgeteilt in die Rubriken "Erzählungen", "Romane und Einzelveröffentlichungen", "Story­sammlungen", "Anthologien (Science-Fiction und Fantastik)", "Weitere Heraus­gaben", "Massenmedien", "Sinologie" und "Musik", denn auch als Komponist ist Jörg Weigand in den letzten Jahren hervorgetreten. Was in dieser Bibliografie aller­dings fehlt, das ist eine Auflistung jener ca. 3.000 bis 4.000 Artikel, Aufsätze und Rezensionen, die Weigand in seinem langen Leben in Zeitungen, Zeitschriften, Magazinen und Sammelwerken veröffentlicht hat. Aber vielleicht läßt sich das ja eines Tages im Internet nachtragen ...?

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