Die Magie des Lesens

Geboren wurde ich 1952 im westfälischen Hagen; aufgewachsen bin ich im Hagener Stadtteil Vorhalle.

In unserer Familie wurde seit jeher viel gelesen. Mein Vater, der ein kleines Baugeschäft führte, hatte nicht immer genügend Zeit dafür; aber wenn ich mich an meine Mutter in den 1950er Jahren erinnere, dann sehe ich sie immer vor mir, wie sie, einen Becher Kaffee neben sich und eine Zigarette in der Hand, neben dem Kohleofen in der Küche in ihrem Korbsessel sitzt und ein Buch liest. Meist waren dies ungeniert triviale Western-, Kriminal- und Abenteuerromane aus der Leihbücherei Mintert unten im Ort (sie existiert heute natürlich längst nicht mehr, und sogar das Haus, in dem sie sich befand, ist seither dem sechsspurigen Ausbau der A 1 zum Opfer gefallen) mit heute längst vergessenen Helden wie Billy Jenkins oder Tom Prox: ziegelsteindicke Schmöker im Supronyl-Einband, gedruckt auf billigem, dickem Papier, das durch den jahrelangen Gebrauch oft fleckig und unansehnlich geworden war. In späteren Jahren traten dann die damals neu aufkommenden Heftromane an ihre Stelle; aber auch da bevorzugte meine Mutter Western und Kriminalromane – Liebesromane las sie nie und gehobene Literatur schon gar nicht.

Nachdem ich als einer der Letzten in meiner Klasse gegen Ende des ersten Schuljahres endlich begriffen hatte, wie diese magische Praktik – das Lesen – funktionierte, war auch vor mir kein Buch mehr sicher. Nach den ersten Kinder­büchern las ich bald mit wachsender Begeisterung dieselbe Art von Trivialliteratur wie meine Mutter; hinzu kamen allerdings auch kindgerechtere Werke wie die Orient- und die Wildwest-Erzählungen von Karl May, Astrid Lindgrens Kalle-Blomquist-Romane, Rolf Ulricis Käpt'n-Konny-Geschichten und nicht zuletzt eine von Martin und Ruth Koser-Michaëls wunderbar farbig illustrierte Ausgabe der Erzählungen aus Tausend und eine Nacht aus dem Knaur-Verlag.

Und dann natürlich die Comics: MICKY MAUS, FIX UND FOXI, FELIX (mit den aus dem Niederländischen übersetzten Geschichten über Ulla und Peter und ihren bärenstarken Freund, den Urmenschen Wastl, die ich auch heute noch jederzeit Hergés Tim & Struppi vorziehe), DER HEITERE FRIDOLIN (die leider nur relativ kurzlebige deutsche Ausgabe von »Spirou«, in der neben Spirous/Fridolins Abenteuern und verschiedenen anderen Serien auch die ersten Lucky-Luke-Comics auf Deutsch erschienen), NICK, TIBOR und SIGURD von Hansrudi Wäscher, dazu die MECKI-Comics in der Fernsehzeitschrift HörZu mit den dazugehörigen querformatigen Bilderbüchern, PETZI, NICK KNATTERTON, die ILLUSTRIERTEN KLASSIKER, die mir in Comic-Form schon sehr früh die großen Werke der angelsächsischen Literatur von Charles Dickens bis Joseph Conrad nahe brachten, und schließlich Tove Janssons MUMIN, dessen surreale Abenteuer jahrelang als Tagesstrip in der Westfälischen Rundschau erschienen, die meine Eltern als Tageszeitung abonniert hatten und bei der ich viele Jahre später einen Teil meiner Ausbildung zum Journalisten absolvieren sollte.

Foto © Karl-Ulrich Burgdorf

Foto © Karl-Ulrich Burgdorf

Neumax, von Beruf eigentlich Fahrer eines hölzernen Spielzeugtraktors, verwandelte sich in meiner Phantasie schon bald in einen kühnen Abenteurer, der zusammen mit einer bunt gemischten Freundesschar zu Lande, zu Wasser, im Wilden Westen und weit draußen im Weltall gegen seinen schurkischen Halbbruder Nemo kämpfte. Der im 2. Schuljahr unternommene Versuch, seine Abenteuer nicht nur zu spielen, sondern sie auch in Form einer Erzählung zu Papier zu bringen, scheiterte nicht nur an meiner mangelnden Ausdauer, sondern auch an meinen damals noch sehr eingeschränkten schriftstellerischen Möglichkeiten. Als treuer Freund aus Kindertagen sitzt Neumax noch heute in meinem Bücherregal und beobachtet von dort aus meine Versuche, diese Mängel durch fleißiges Üben am Schreibcomputer wenigstens ein Stück weit zu überwinden.